Text: Christel Zidi

Erinnerungen einer Hebamme (fiktiv)

Meschede, 14. Mai im Jahre des Herrn 1803.

Heute schreibe ich, Magdalene, um das festzuhalten, was sich in diesen Monaten in Meschede ereignet. Seit nunmehr drei Wochen bin ich Schülerin am Königlichen Hebammen-Lehrinstitut, das unter der Leitung des Herrn Doktor Hermann Joseph Pulte steht. Ich kann kaum glauben, dass eine einfache Frau wie ich hier sein darf. In meinem Heimatdorf hätte niemand gedacht, dass man das Handwerk der Geburtshilfe lernen kann wie Lesen und Schreiben. Doch Herr Doktor Pulte sagt, Wissen sei das Licht, das die Dunkelheit der Unwissenheit vertreibt – und manchmal auch den Tod.

Herr Doktor Pulte ist ein Mann von ernster Art. Er spricht ruhig, aber mit Nachdruck, und wenn er uns ansieht, spürt man, dass er alles weiß, was mit dem Leben und dem Sterben zu tun hat. Geboren, so erzählt man, sei er in Thülen bei Brilon, vor über vierzig Jahren. Er habe in Bonn Medizin studiert und in Feldspitälern gedient, ehe er hierherkam. Er weiß, wie das Leben draußen aussieht, und wie wenig das Glück eines Kindes vom Zufall abhängen sollte. Darum hat er dieses Institut gegründet, damit wir Frauen nicht mehr nur auf Erfahrung vertrauen, sondern auf Wissen.

Wir wohnen in schlichten Zimmern, zwei oder drei Mädchen zusammen. Ich teile mein Bett mit der Lübke aus Langscheid. Sie ist verheiratet, ich nicht, und sie vermisst ihre Kinder sehr. Jeden Morgen gehen wir zur Unterweisung. Heute hat Herr Doktor Pulte uns das Lehrbuch gezeigt, das er selbst mitverfasst hat. Wir sollen jede Zeile darin kennen, denn es ist unser Schlüssel zu sicherem Handeln. Wenn er liest, klingt seine Stimme fest wie Stein, und doch liegt etwas Mildes darin, wenn er von den Müttern spricht, die wir künftig begleiten werden.

Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal eine zinnene Klystierspritze in der Hand hielt. Sie glänzte kalt im Licht, und ich hatte Angst, sie könne mir aus den Fingern gleiten. Pulte lächelte nur kurz und sagte: „Fürchten Sie nicht das Werkzeug, sondern den Irrtum.“ Danach verstand ich, dass unser Beruf nicht nur Geschick verlangt, sondern Demut.

Abends sitzen wir manchmal auf der Bank vor dem Haus und sehen, wie die Sonne über dem Schultenkamp sinkt. In der Ferne hört man die Glocken von St. Walburga. Dann erzählt eine von uns von zu Hause, von Geburten im Kerzenschein, von Schreien und Gebeten. Wir wissen, warum wir hier sind. Zu viele Frauen sind gestorben, zu viele Kinder nicht lebend zur Welt gekommen.

Heute sah ich Herrn Doktor Pulte mit seiner Frau über den Hof gehen. Sie trägt ein dunkles Kleid, er hält die Hände auf dem Rücken verschränkt. Man sagt, seine Söhne sollen auch Ärzte werden. Vielleicht wird einer von ihnen dereinst so lehren, wie er es tut. Ich wünsche es der Welt.

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