Text: Christel Zidi
Kückelheim, im November des Jahres 1847 (fiktiv)
Die Schneiderstube war klein, doch stets voller Leben. Ein niedriger Raum, die Fenster tief in die Mauern eingelassen; das letzte schwache Tageslicht fiel schräg auf den großen Holztisch. Dort saß Gertrud, die Schneiderin. Ihre Finger glitten flink über den Stoff, die Nadel blitzte im Kerzenschein und das leise Knacken des Garns begleitete ihre Arbeit.
Es war ein kalter Abend. Draußen peitschte der Wind über die Felder, drinnen knisterte das Feuer im Herd. Ihre beiden kleinen Töchter spielten auf dem Fußboden mit leeren Garnrollen. Ihre Stieftochter Franziska beaufsichtigte die beiden. Doch immer wieder blickte sie interessiert zu ihrer Stiefmutter und zum Vater. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Schneiderblut durch ihre Adern floss.
Schneidermeister Georg hatte den schweren Wollstoff auf dem Tisch ausgebreitet. „Gertrud, die Jacke muss bis Sonntag fertig sein“, sagte er und strich mit der Schere über die Kante. Dann lass mich die Ärmel nähen“, antwortete sie. „Meine Stiche sind enger, das hält besser.“ Sie beugte sich über den Stoff, setzte die Nadel an und zog den Faden durch. Ihre Stiche waren nicht nur fester, sondern sie verstand das Handwerk mindestens so gut wie ihr Mann – auch wenn sie keinen Meistertitel tragen durfte.
Die Tür ging auf und eine junge Frau trat in die Stube. Sie brauchte ein Kleid – schlicht, aber festlich. Gertrud nahm mit sicheren Händen Maß und ließ die Frau von der bevorstehenden Hochzeit berichten. Ob man es wollte oder nicht, in einer Schneiderstube war man immer über alle Neuigkeiten im Ort informiert. Sie sah die freudig aufgeregte junge Frau an und lächelte. „Wenn du tanzt, wird dieses Kleid um dich herum fließen wie Wasser. Du wirst wunderschön darin aussehen. Aber nicht du wirst das Kleid tragen, sondern das Kleid wird dich tragen.“
Gertrud erinnerte sich noch genau daran, wie sie sich an ihrem Hochzeitstag gefühlt hatte. Sie hatte bei der Hochzeit in der Esloher Pfarrkirche ein wunderschön besticktes Kleid getragen. Der Vater hatte es ihr genäht. Von ihm hatte sie das Handwerk gelernt, denn auch er war Schneidermeister. Der Hochzeitsrock ihres Ehemannes war allerdings nicht mehr neu; er hatte ihn schon bei seiner ersten Hochzeit getragen. Seine Frau war keine vier Jahre später gestorben.
Sowohl ihr Ehemann als auch ihr Vater gehörten als Meister ihres Fachs der Schneiderzunft an. Doch diese war längst nicht mehr so stark wie noch ein paar Jahrzehnte zuvor. Das preußische Gewerbereglement von 1845 hatte die Gewerbefreiheit gebracht: Zünfte existierten nur noch als freiwillige Korporationen, und jeder Schneider konnte sich selbständig machen.
Es gab viele Veränderungen in dieser Zeit. Georg erzählte sogar einmal, dass die Menschen bald nicht mehr zum Schneider gehen würden, sondern ihre Röcke und Kleider in Fabriken fertigen ließen. Gertrud konnte sich das kaum vorstellen. „Frau, weißt du denn nicht, was der Wanderhändler in seiner Kiepe hat? Das sind nicht mehr nur Holzwaren. Er handelt jetzt auch mit Wolljacken. Jacken aus der Fabrik in Schmallenberg!“ Gertrud sah ihn skeptisch an. „Und demnächst braucht auch keine von euch Frauen mehr zu stricken. Die Schmallenberger wollen auch Strümpfe produzieren.“
Ohne Zweifel quälten ihren Mann Zukunftssorgen. Bisher konnten sie gut von ihrem Gewerbe leben – nicht ganz so gut vielleicht wie sein Onkel Johann, Schneidermeister in Oberhenneborn. Der Onkel konnte ein schönes Gut sein Eigen nennen, ein Gut, das er selbst gegründet hatte. Gertrud wollte jedoch weiter positiv in die Zukunft blicken, denn sie liebte ihre Arbeit und sie wusste, dass ihre Kunden gern zu ihr kamen, ihre Geschicklichkeit und Freundlichkeit zu schätzen wussten.
Die rasche industrielle Entwicklung erlebte sie nicht mehr, denn ein halbes Jahr nach der Geburt ihres jüngsten Kindes starb sie. Doch die Erinnerung an sie blieb: an die Schneiderin, die nicht nur für ihren Fleiß und ihre Geschicktheit bekannt war, sondern auch dafür, die Stoffe an die Menschen anzupassen.
Fakten
Die Schneider Anna Maria Gertrud Eickhoff wurde im Jahre 1811 in Kückelheim geboren und starb 1850 ebenda. Mit ihrem Mann, dem Schneidermeister Georg Gerke, hatte sie drei Kinder. Eine Tochter brachte Georg aus erster Ehe mit.
Als erstes Arbeitsmittel für das Schneidern verwendeten Menschen vor über 600.000 Jahren Nadeln. Diese wurden aus Knochen, Fischgräten, Horn oder Elfenbein hergestellt, die Fäden aus Tiersehnen.
Die Schneiderzunft hatte verbindliche, gesetzlich abgesicherte Zunftrechte bis etwa 1811.
Danach bestand sie – wie viele andere Zünfte – oft kulturell oder organisatorisch weiter, aber ohne rechtliche Macht. Rechtliche Zunftprivilegien endeten 1869 endgültig.
Die industrielle Textilproduktion begann in Deutschland etwa um 1800, nahm aber im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu, vor allem nach 1830. In Eslohe und vielen anderen ländlichen Regionen setzte die Industrialisierung später ein, und die handwerkliche Produktion war bis ins späte 19. Jahrhundert hinein noch weit verbreitet. Die erste große Textilfabrik in Westfalen entstand im frühen 19. Jahrhundert in Bielefeld.

