Natürlich war sie stolz, dem Geschlecht der Grafen von Arnsberg zu entstammen – eines der mächtigsten, vielleicht sogar das mächtigste Adelsgeschlecht Westfalens. Agnes war ihrem Vater dankbar, dass er ihr die Ehe erspart hatte. So viel Glück hatten längst nicht alle ihre Freundinnen. Mit Entsetzen hatte sie festgestellt, dass kaum ein Kandidat auch nur annähernd so gebildet war wie sie. Ausgesprochen hätte sie das nie – aber gedacht, ja, gedacht hatte sie es schon.
Sie vermutete zudem, dass ihre Mutter eine ähnliche Ansicht vertrat. Zumindest hatte sie ihren Vater immer wieder ermuntert, Agnes zur Äbtissin machen zu lassen. Eine Äbtissin eines Stifts – das war etwas anderes als die einer Klostergemeinschaft. Die Vorteile lagen klar auf der Hand:
- Reisefreiheit, eine private Dienerschaft, kein Armutsgelübde,
nur wenige asketische Verpflichtungen. - Ihre gewohnte Kleidung – Leinen statt grober Wolle, aber auch Purpur, Batist und Pelze.
- Fleisch und Wein auf dem Speiseplan.
- Ihr Privatbesitz blieb ihr erhalten und ging nicht automatisch ans Stift über.
Sie dachte an Emhildis, die Stiftsgründerin – vermutlich eine Verwandte des mächtigen Grafen Ricdag, also eine ihrer Vorfahren. Emhildis lebte nun zwar bereits vor 385 Jahren, doch ihre Bildung, ihr kaufmännisches Geschick und ihre Frömmigkeit galten immer noch als vorbildlich. Agnes bewunderte sie sehr.
Damals war Meschede vermutlich noch ein eher unbedeutender Flecken gewesen – wenn auch die Burg zumindest etwas Adelsglanz in die Gegend gebracht haben mochte, wenngleich kaum zu vergleichen mit Arnsberg. Agnes kannte das Stift aus eigener Anschauung recht gut. Viele ihrer Vorfahren hatten dort gelebt, und auch jetzt befanden sich Verwandte unter den Stiftsdamen. Verwandtschaft – das hatte sie verinnerlicht – war das A und O im Leben, das Einzige, worauf man sich verlassen konnte. Auch wenn es da schon Ausnahmen gegeben hatte.

